Martina Riesener, Friedberg im Juni 2016

Wer kennt sie nicht, diese überlieferten Familiengeschichten vom früheren Reichtum und vom verloren gegangenen Adelstitel. Diese und andere Begebenheiten kursierten natürlich auch bei uns, daher nachfolgend einige dieser Anekdoten und Kuriositäten.

Besondere Bedeutung gebührt in diesem Zusammenhang einer Urgroßmutter namens Anna Franziska. Durch etliche Erzählungen hatte ich in Erfahrung gebracht, dass sie vermutlich aus russischem Adel stammte, da ihr Geburtsname mit dem bekannten “sky“ endete. Als Ehefrau eines Arbeiters im Ruhrgebiet parlierte sie zudem bemerkenswerterweise gelegentlich in französischer Sprache, besonders, wenn sie über etwas verärgert war. Weiterhin wurde berichtet, es seien gesiegelte, alte Dokumente, verfasst in unbekannter Sprache, von den Nachkommen verbrannt worden, da “diese ja sowieso niemand mehr lesen könne“.

Anna Franziska

Natürlich wollte ich mich nicht den Reihen der entrückten “Familienforschungs-Adelsprädikatjäger“ anschließen, aber das hörte sich doch sehr vielversprechend an. Welch grandioser Einstieg wäre eine durch mich bestätigte Adelszugehörigkeit in diesem Teil der Forschung?
Ernüchterung brachte bereits die erste angeforderte Kopie der Geburtsurkunde eines ihrer Kinder aus dem Jahr 1899. Darin war das erwartete “geborene …sky“ getrennt geschrieben worden: in einer Zeile “gebore“ und in der nächsten mit “nen …sky“ fortgesetzt, und zwar so, dass das “nen“ durchaus auf den ersten Blick auch als “von“ gelesen werden konnte. Bei genauerer Betrachtung traf dies jedoch nicht zu, war aber vermutlich so von ihren Kindern interpretiert worden. Trotz dieser ersten Negativerfahrung erforschte ich ihre dennoch mögliche adlige Ahnenreihe zurück bis zu ihrem eigenen Urgroßvater, einem sprichwörtlich durch die Lande ziehenden Füsilier im Bataillon von Carlowitz. Danach verliert sich die Spur der Familie – der Nachname allerdings wurde stets ohne ein “von“ geschrieben.

Aber warum sprach sie französisch? Auch das klärte sich.

Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts emigrierten drei ihrer sechs Kinder in die USA. Zeitgleich verlor sie ihren jüngsten, den einzig noch im Haushalt lebenden Sohn durch einen Unfall.  Unmittelbar darauf verließ sie ihren Ehemann für etliche Monate und zog zu zwei ihrer in Frankreich lebenden, jüngeren Geschwister. Dort dürfte sie dann auch einige französische Sprachkenntnisse erworben haben.

Immer noch offen bleibt allerdings die Frage, welche Bindung dieser Familienteil tatsächlich zu Russland hatte, welche Dokumente damals verbrannt wurden? Interessant ist, dass laut einer Ankündigung im “L`Express du Midi“ von 1936, Anna Franziskas Bruder in Toulouse eine Lesung über “Erinnerungen aus einer Reise durch Russland“ hielt. Leider lässt sich das nicht mehr klären. Er und auch seine mit ihm lebende Schwester waren unverheiratet und sind als in Frankreich internierte Deutsche seit den Kriegswirren des 2. Weltkriegs verschollen. Alle Nachforschungen zu ihrem Verbleib verliefen bisher ergebnislos.

Im Gegensatz zum verlorenen oder nicht vorhandenem Adelstitel steht die überraschende Möglichkeit zur problemlosen Erlangung eines “Adelsprädikats“.

martina2In den letzten Kriegsmonaten verließ ein in Essen/NRW lebendes Urgroßelternpaar das von starken Bombardements heimgesuchte Ruhrgebiet in der irrigen Annahme, bei den noch im Osten wohnenden Verwandten Sicherheit und Ruhe zu finden. Nachdem aber auch dieser Landesteil zum Kriegsschauplatz wurde, flüchteten sie zu weiteren Angehörigen nach Bayern. Dort verstarb der Urgroßvater, jedoch wurde ihm ein äußerst (frag)würdiges Grabmal zuteil.

Vermutlich hatte seine Witwe im reinsten “Ruhrplatt“ mitgeteilt, dass sie nicht “aus“ sondern “von Essen“ seien und so den bayrischen Steinmetz zu dieser recht freien Interpretation verleitet. Auf jeden Fall führt das Betrachten des Fotos, trotz des eigentlich traurigen Anlasses, immer wieder zur allgemeinen Heiterkeit in der Familie.

Alte Fotos – ein schier unerschöpfliches Thema.

Glücklicherweise sind noch etliche dieser Erinnerungsstücke oftmals in alten Kistchen, bestenfalls sogar in Alben, vorhanden. Auch sie könnten die damaligen Lebensumstände dokumentieren und natürlich in erster Linie Aufschluss über das Aussehen der Vorfahren geben, wenn sie denn nur beschriftet wären oder noch Familienmitglieder leben würden, die mit Auskünften zur Verfügung stünden. Jedenfalls konnte ich mich als Tochter bereits verstorbener Eltern und Großeltern nur wenig über Berge nicht beschrifteter Fotografien freuen, die mir bestenfalls dank einiger Indizien Aufschluss über die abgebildeten Personen gaben.

So trug die Rückseite der Ablichtung einer älteren, mit strenger Miene blickenden Frau mitsamt goldenem Mutterkreuz auf der Brust den handschriftlichen Vermerk: “Deine Mutter – 75 Jahre“.
Hier ergaben die Recherchen, dass es sich um meine, immerhin bereits 1867 in Zwilipp geborene, Urgroßmutter handelte.

Dann gab es natürlich auch verschiedenste Bilder, nur benannt mit “unser Sonnenschein – 1 Jahr“, “Dein Sohn/Dein Vater im Regiment sowieso“ oder einfach “unsere Familie“. Keine Vor- oder Nachnamen, und ich rätselte bei der Ansicht, um welchen Sonnenschein es sich denn hier bitte handeln könne.

martina3Ein wahres Highlight war ein Jugendfoto meiner Großmutter aus den 20er Jahren, voller Poesie von ihr lediglich betitelt: “Als ich noch im Flügelkleide …“. Dieses Foto war natürlich problemlos zuzuordnen, aber bereits meine Kinder wären bei einer Identifizierung der Dame im Flügelkleide hoffnungslos verloren gewesen.

Meine Schwiegereltern wurden also umgehend mit der Beschriftung ihrer Fotosammlung dienstverpflichtet. Bei der Sichtung und  Kennzeichnung verbrachten wir gemeinsam viele vergnügte Stunden, alte Erinnerungen wurden wach, und der eine oder andere unerwartete Fund trat zutage.

 

martina4Eindrucksvoll war das Hochzeitsbild eines vermeintlichen Urgroßelternpaares. Ein würdevolles Brautpaar, das der damaligen Zeit entsprechend recht versteinert in Richtung Kamera schaute. Spätere Fotos zeigten die mittlerweile an Rheuma erkrankte, vormalige Braut – verhärmt und kaum wiederzuerkennen – inmitten ihrer Kinderschar. Lebhaft berichtete meine Schwiegermutter über diese Großmutter, die sie durch ihre gesamte Jugend begleitete und erst in betagtem Alter verstarb. Das Hochzeitsfoto bekam natürlich einen Ehrenplatz in der Ahnengalerie.

Einige Jahre später kontaktierte mich eine Familienforscherin, die bei ihren Internetrecherchen auf mich gestoßen war. Ihre Großmutter war die Schwester des Bräutigams auf meinem Hochzeitsbild. Hocherfreut tauschten wir Informationen und Unterlagen aus. Natürlich sandte ich ihr auch die Aufnahme des Brautpaares zu und erhielt postwendend zur Antwort, wie begeistert sie sei, dass sich in unserem Familienteil sogar das Hochzeitsfoto “ihrer“ Großeltern erhalten habe. Sie seien beide gehörlos gewesen; man hätte sich in einer entsprechenden Schule kennengelernt. Die Braut habe als Porzellanmalerin gearbeitet, der Bräutigam als Fotograf. Er habe das Foto mittels Selbstauslöser eigenhändig geschossen, und bei den damals langen Belichtungszeiten seien halt die Gesichtszüge erstarrt.

Nun ja, hier hatte sich meine Schwiegermutter also in ihren Erinnerungen getäuscht bzw. die Überlieferung stimmte nicht. Aber zumindest wissen wir nun, wer das alte Familienerbstück, eine Porzellankanne, vor mehr als 100 Jahren so kunstvoll bemalte.

Vor etlichen Jahren kursierte im Netz die Geschichte von einem Familienforscher, der seine Familiengeschichte bis in die Zeiten der mittelalterlichen Ritterschaft über Jahrzehnte hinweg akribisch erforschte, bis ihm seine – vermutlich recht debile – Verwandtschaft schlussendlich eröffnete, dass er adoptiert sei.

Ganz so desaströs ist meine nun folgende Erzählung nicht, aber auch sie führte zu einem ordentlichen Loch in der Ahnenreihe.

Der Lebensweg von der zu berichtenden Großmutter meines Mannes war mir recht umfänglich bekannt, auch hatte ich Oma Gertrud noch wenige Wochen vor ihrem unerwarteten Tod kennenlernen dürfen. 1903 in Posen geboren, zog sie 1907 mit Eltern und ihrem um ein Jahr älteren Bruder ins Ruhrgebiet, dort wurden zwei weitere Geschwister geboren. Gertrud heiratete 1922, ihr einziges Kind kam 1929 zur Welt, 1955 verstarb der Ehemann, 1976 sie nun selbst. Ihr Familienstammbuch lag vor, weitere Urkunden aus den Standes- und Pfarrämtern ebenfalls. Lediglich die Anforderung ihrer Geburtsurkunde aus Polen ersparte ich mir in diesem Fall aus Kostengründen – die Urkundennummer war bekannt, wie vermeintlich auch alles weitere.

Mit ihrem Vater beginnend startete ich die Forschung. Sein Geburts- sowie die elterlichen Sterbeorte waren in seiner eigenen Sterbeurkunde verzeichnet, und erfreulicherweise hatten die Mormonen hier Dutzende Verfilmungen der Standesamts- und Kirchenbücher erstellt. In den folgenden Monaten orderte ich also Unmengen entsprechender Filmrollen und fieberte jedem Termin in der genealogischen Forschungsstelle entgegen. Stundenlang vor dem Sichtgerät sitzend, dabei beständig die immer wieder zu den unpassendsten Momenten auftretende Unschärfe korrigierend, notierte ich seitenweise Familieneinträge. Ich plagte mich mit den Handschriften der diversen Pfarrer, freundete mich dabei gezwungenermaßen mit den verschiedensten weiblichen Namensanhängseln “…owa“, “…ina“ oder “…inin“ an, und auch die wechselnden deutsch-polnischen Schreibweisen der Vornamen beeindruckten mich nicht mehr. So erwuchs nach und nach ein recht gutes Bild der damaligen innerfamiliären Verflechtungen und die Ahnenliste reichte mittlerweile einige Generationen zurück.

Auch die Lebenswege der ebenfalls längst verstorbenen Geschwister Gertruds waren, dank zahlloser Informationen aus eingesehenen Melde- und Heiratskarten sowie einiger weniger StA Urkunden [Anm.: Forschung vor Änderung des Personenstandgesetzes], bereits relativ gut rekonstruiert. Zur weiteren Vervollständigung und noch immer auf der Suche nach Heiratsdatum und -ort von Gertruds Eltern, sprach ich mit den Geschwisterkindern, aber keine Unterhaltung führte zu erwähnenswerten Ergänzungen. Das letzte Gespräch wollte ich mit der Jüngsten führen, einer “Nachzüglerin“, überlegte aber bereits, auf den Anruf bei ihr zu verzichten.

Ordnungshalber rief ich trotzdem an. Nur wenige Minuten später hatte ich das Gefühl, in ein Erdbebengebiet geraten zu sein: “Ach, sie machen Familienforschung, das ist ja toll. Aber warum interessieren sie sich für meinen Großvater? Gertrud war ein “Vorkind“, die hat mit ihm überhaupt nichts zu tun. Das sollte ihr Schwiegervater aber wissen!“ Recht martina5fassungslos beendete ich das Telefonat. Außer Frage stand für mich, dass mein Schwiegervater nichts von der unehelichen Geburt seiner Mutter wusste. Mit äußerst gemischten Gefühlen informierte ich ihn über die Behauptungen seiner Cousine, und erwartungsgemäß war er vollkommen perplex, denn seine Mutter hatte ihn nie darüber aufgeklärt. Allerdings entsann er sich daran, dass der ältere Bruder seiner Mutter von den beiden jüngsten Geschwistern gelegentlich spöttisch mit “Gutsbesitzersöhnchen“ betitelt wurde, was er aber damals auf den besonders sorgfältigen Kleidungsstil seines Onkels zurückführte. Nun bekam diese Äußerung möglicherweise eine ernstere Bedeutung.

Die sofort aus Polen angeforderte Geburtsurkunde bestätigte die getroffenen Aussagen. Gertrud war unehelich geboren, und ihr wurde erst 1914, nach immerhin 3 Amtsgerichts-Terminen, der Familienname des Stiefvaters lt. § 1706 BGB erteilt. Eine Vaterschaftanerkennung erfolgte nicht. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits 11 Jahre alt, also ein Schulkind, und wusste mit Sicherheit um ihre uneheliche Geburt.

Auch die Hochzeit ihrer Mutter ließ sich nun problemlos auffinden. So registrierte der Pfarrer bei der kirchlichen Eheschließung im Jahr 1904 die Braut als “deflorierte  Jungfrau“, was bei immerhin zwei unehelichen Kindern wohl als durchaus zutreffend anzusehen ist. Das nachfolgend bezüglich der dort lagernden Amtsgerichtsakten befragte Hauptstaatsarchiv teilte – zu meinem Ärger – bedauernd mit, dass man zwar bei einer 1914 eingetragenen Vereinsgründung gerne Auskünfte erteilen könne, diese privatrechtlichen Unterlagen hingegen nach einigen Jahrzehnten Aufbewahrungszeit vernichtet würden.

Das Rätsel der Geburt bleibt also bestehen und könnte ebenso Anlass zu Spekulationen geben, wie andere Geschehnisse auch.

So sinniere ich seit Jahren über einen Urahn, seines Zeichens Dorfjäger, der zwischen 1812 und 1820 Vater von fünf unehelich geborenen Kindern wurde und die Mutter seiner Nachkommen erst 1821 ehelichte. All diese unehelichen Sprösslinge vermerkte der Pfarrer im Kirchenbuch als ehelich geborene Kinder des Dorfjägers Adolph Friedrich und seiner Braut Anna Dorothea.

Welches Ehehindernis lag vor, und was mag den Geistlichen zu diesen Eintragungen bewogen haben? In meiner Phantasie türmen sich gelegentlich Berge von Wildbret im Pfarrhaus, aber auch ein Jäger, das Gewehr hinter dem im Kirchenbuch schreibenden Pastor in Anschlag haltend, schlich sich bereits in meine Gedanken.

Und warum heiratete einer meiner Zwilipper Vorfahren 1814 bereits 5 Tage nach dem Tod seiner im Kindbett verstorbenen, ersten Ehefrau deren erst 18jährige Schwester? Hat dabei wirklich nur die Versorgung der drei verwaisten Kinder eine Rolle gespielt, oder war es vielleicht sogar der Wunsch der Verstorbenen?

Wie mag sich eine andere, gerade 14 Jahre alt gewordene, Zwilipper Braut gefühlt haben, die man aufgrund der bäuerlichen Misswirtschaft ihres Vaters 1833 mit einem immerhin 15 Jahre älteren Mann aus meiner Verwandtschaft verheiratete?

Zumindest die Geschichte berichtet von einer überaus glücklichen, erfolgreichen und mit 11 Kindern gesegneten Ehe. Das erste Kind brachte die junge Ehefrau bereits mit 16 Jahren zur Welt. 1893 erschien in verschiedenen überregionalen Zeitungen ein Bericht zur diamantenen Hochzeit des Paares: “Diamant Hochzeit, in Zwilipp (Pommern) feierte ein Altsitzerpaar die Diamantene Hochzeit. Der Mann zählt 90, die Frau 75 Jahre [Anm.: 89 bzw. 74 Jahre wären korrekt]. Etwa 100 Nachkommen sind vorhanden.“

Einmal mehr bleibt die Erkenntnis – es war spannend, es ist spannend und es wird spannend bleiben.

 

Ein Gedanke zu “Anekdoten aus der Familienforschung”

  • Ich bin Katrin Häcker aus Deutschland, ich suche die Adresse meiner Urgroßeltern. Herrmann und Adeline Schüttpelz. Sie lebten von 1928-1939 in Zizow. Er war Büdner. Bitte helfen Sie mir weiter!!! Ich möchte gern mal zu der Stelle fahren, wo sie gelebt haben. Vielen Dank für Ihre Mühe!! Katrin Häcker

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