Viele der jüngeren Familienforscher haben leider kein Wissen mehr über die Anfangsjahre ihrer Familien nach Flucht und Vertreibung. Gemessen an der Bevölkerungszahl nahm Schleswig-Holstein zwischen 1944 und 1947 die meisten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches auf. Die Einwohnerzahl, die 1939 noch 1,6 Millionen betragen hatte, stieg bis 1949 auf 2,7 Millionen. Trotz aller Widerstände gelang ihre Unterbringung, Versorgung und Integration. Zum zweiten Advent dieser Artikel über das Schicksal pommerscher Fischerfamilien, die auf ihren Kuttern geflüchtet sind und dann von Travemünde aus wieder ihre alten Reviere befischten.

Der folgende Text stammt aus dem “Pommersches Heimatbuch 1957”

Bild aus "Pommersches Heimatbuch 1957" Bildautor Th.M.Scheerer
Bild aus “Pommersches Heimatbuch 1957” Bildautor Th.M.Scheerer

PAUL THEODOR HOFFMANN

Von Travemünde in die heimatlichen Fanggründe

Pommern hatte in den dreißiger Jahren und früher mit mehr als der Hälfte Anteil an den jährlichen Erträgen der gesamten deutschen Ost­seefischerei. Der Verlust der Fischereihäfen an der Ostsee jenseits der Odermündung bedeutet eine herbe Einbuße. Und die Fischer von einst? Sie haben, soweit sie sich retten konnten, Unterschlupf gesucht am vor-pommerschen, mecklenburgischen oder schleswig-holsteinischen Strand. Viele blieben hängen im Bereich der Sowjetzone; sie glaubten bis fast in das Jahr 1946 hinein, sie brauchten die Lebaer, Stolpmünder, Rügen-walder oder Kolberger Erkennungszeichen an den Bordwänden ihrer Kutter nicht zu überpinseln, könnten jeden Tag die Anker lichten und Kurs in den Heimathafen nehmen. Schwer nur wollte die bittere Wahr­heit in die trotzigen Fischerschädel hinein.

Die aber im Westen anlandeten, vor Schleswig-Holstein (mit Zwischenaufenthalten in Saßnitz oder Warnemünde), haben erst einige Male hin und her kreuzen müssen, ehe sie einen Platz fanden, um dort festzu­machen und ihr Gewerbe von neuem zu beginnen. Allein schon die Kutter hatten erheblich gelitten unter den Strapazen. Doch selbst die alten Fischersleute griffen wieder fest zu. Noch sollten die Planken sie eine Weile tragen.

Eine pommersche Fischersiedlung an der holsteinischen Küste entstand während der Nachkriegsjahre in Travemünde. Weit abseits vom Strom der Badegäste, von Kurtaxen und Casinobetrieb liegt das kleine Travemünder Dorf der „Ostfischer”, wie man sie hier nennt. Die flachen Wohnbaracken verschwinden hinter dem hohen Erlen- und Weiden­gebüsch zwischen der Hauptstraße nach Lübeck und der Trave. Ganz still ist es dort unten; der Sumpf schluckt den Lärm der vorüber jagenden Autos. Nur die Preßluftbohrer und Hämmer der nahen Werft schallen herüber vom Hafen; dann und wann unterbricht das dumpfe Tuten eines Dampfers das harte Stakkato der Werftgeräusche.

Bild aus "Pommersches Heimatbuch 1957" Bildautor Th.M.Scheerer
Bild aus “Pommersches Heimatbuch 1957” Bildautor Th.M.Scheerer

Weit über fünfzig Familien haben sich in der Siedlung eingerichtet, so gut es nur irgend geht. Man hat aus der Behelfslösung in fast zehn Jahren einen Zustand auf lange Frist geschaffen, wenngleich auf dem ganzen Komplex so etwas wie ein „Übergang” zu liegen scheint. Wohl werden in Travemünde gegenwärtig an den Hängen des Südwest­randes der Stadt Wohnblocks für Fischer gebaut, doch nur ungern wollen die Familien ihre Baracken im Travegrund verlassen. Die monat­lichen Lebenskosten sind dort viel niedriger. Und das Geld verdient sich ungleich schwerer als einst in Pommern. Die Bedingungen, unter denen diese Fischer heute ausziehen zum Fang, sind wesentlich mühe- und gefahrvoller als vordem. Ein höherer Einsatz wird ihnen abgefordert, überdies haben sie alle in der Siedlung mittlerweile Eigentumsrechte erworben. Sind sie schon auf See ständig unterwegs, dann wollen sie ihren kleinen festen Platz an Land nicht leicht wieder wechseln. Ende 1945 wurden die Behelfsheime für die Ostfischer in Travemünde aufgestellt. Es ging alles sehr schnell. Von Fehmarn waren sie hierher gewiesen worden. Die Ostseefischerei sollte wieder anlaufen, doch man konnte ja nicht mit Kind und Kegel auf den Kuttern kampieren. Lange Wochen hatten die Fischer es ohnehin schon getan, auf vollgepferchten Booten, nachdem sie den Sowjets vor der Nase aus den pommerschen Häfen entwischt waren. Nun mußte endlich wieder Frieden sein.

Häuser in der Fischersiedlung Travemünde
Häuser in der Fischersiedlung Travemünde

Mittlerweile hat die Fischersiedlung manche freundlichen Akzente be­kommen. Gleich beim ersten Anblick springt einem die Sauberkeit ins Auge. Jedes Grundstück ist eingezäunt, die Gärten sind ordentlich bestellt, überall leuchten die Blumen und bilden zu den farbigen An­strichen der Behelfsheime und Staketenzäune einen hübschen Kontrast. Die Fischer lieben diese Buntheit in ihrer nächsten Umgebung und pflegen sie behutsam. Wenn das bißchen Land, auf dem sie heute leben, auch nur gepachtet ist. Dafür konnten sie aber die Wohnbaracken als Besitz erwerben. Sie legen deshalb emsig Hand an, erweitern und be­festigen den Bau. Auf den Grundstücken zur Wasserseite richteten sie einige Nerzfarmen ein. Jede Fangreise läßt, auch bei bester Qualität der Fische, noch genug „Gammel” übrig, um für die Nerze reichlich Futter zu sichern. Die Einkünfte aus der Zucht sind ein Nebengewinn, den man gut und gern brauchen kann.

Der neue Anfang in Travemünde ist den pommerschen Fischern nicht leicht gefallen. Unverdrossen haben sie geschafft, und ihre Zähigkeit verhalf ihnen schließlich doch zu beachtlichen Erfolgen. Die Fischerei hier hat durch sie einen tüchtigen Auftrieb bekommen. Wenn die Ost­deutschen heute von den 123 Kuttern der Travemünder Fischereigenos­senschaft 68 stellen, so drückt das Zahlenverhältnis doch nicht das aus, was eigentlich dahinter steckt. Der Geschäftsführer der Genossenschaft — ein waschechter Holsteiner — traf mit einem knappen Satz sehr offen den Kern der Sache: „Die Ostfischer haben der Travemünder Fischerei wieder zum Leben verholfen.”

Die Heringsgründe vor der Lübecker Bucht waren bereits so weit aus­gefischt, daß die fallenden Erträge Sorgen bereiteten. Um sich an den Fängen in der Nordsee zu beteiligen, fehlte es den Eignern an den nötigen Mitteln; Hochseekutter hätten gebaut werden müssen. Und man wollte es gern weiter so halten wie bisher; mit Tagesfahrten, auf die man eingespielt war.

Ostseeküste
Ostseeküste Daten von OpenStreetMap – Veröffentlicht unter ODbL

Die pommerschen Fischer zauderten nicht lange. Sie vermieden die Konkurrenz, aus Kameradschaftlichkeit gegenüber den Heimischen. Es hatte keinen Zweck, die Fangresultate noch mehr zu schmälern. Sie wußten, wo es sich mehr lohnte: auf ihren alten Gründen vor der pom­merschen Küste. Die waren ihnen vertraut. Hatten sie aber damals von Stolpmünde oder Kolberg nur etwa vier bis sechs Stunden gebraucht, um die Heringsplätze anzulaufen, so bedeutete das jetzt weit mehr als dreißig Stunden Fahrt. Zudem mußten sie jedesmal mindestens sechs bis acht Tage unterwegs sein. Würden ihre Kutter, deren Größe darauf keineswegs berechnet war, das leisten können?

Viel Zeit zum Überlegen blieb nicht. Umbauten konnten nicht vorge­nommen werden. Was gab es damals, 1946 und 1947, schon?! Der Hering mußte erst ins Netz. Auch die kleinen Kutter machten sich deshalb hinaus in das höchst bedenkliche Unternehmen. Es glückte. Die Fänge in der mittleren Ostsee sind für Travemünde in kurzer Frist beinahe eine Selbstverständlichkeit geworden. Den Gefahren trotzt man. Zum Hinweis auf die heftigen Stürme selbst während der Sommermonate dieses Jahres, die den Fischern kaum eine Wetterpause zwischen Früh­jahr und Spätherbst gönnen, meint der alte Fischer Lemke, der aus Stolpmünde stammt: „Ach watt, Wind giwf nich mehr.” Und er kneift die Augen im wetterharten Gesicht ironisch und trotzig zusammen. Die Fluchtfahrt war bereits eine tüchtige Probe gewesen. Mit Stärke 9 und 10 hatte der Wind auf die Küste gestanden, dazu von Nordwest, als die Kutter in den wilden Tagen Anfang März 1945 zur Flucht hinaus auf See gejagt wurden. Freunde und Bekannte wurden mitgenommen, jeder Platz an Bord war belegt. Nicht alle kamen durch. Die es schafften, sind heute wieder draußen auf ihrer Ostsee; dort, wo sie sie von pommerschen Tagen, her kennen. Wenn sie an der Stolper Bank die Netze einholen, denken sie ab und an für einen kurzen Mo­ment zurück. Wie nahe haben sie ihre eigentlichen Heimathäfen, die Küstenorte von Leba bis nach Swinemünde. Aber die sind vorerst un­erreichbar. Wohl dürfen sie bei Proviantmangel dort anlaufen, bei See­not, oder um Schutz vor aufkommendem Unwetter zu suchen, aber sie tun es nicht. Bornholm muß ihnen das ersetzen. Ein Kolberger Eigner lief mit seinem Kutter unlängst „zu Hause” an. Er wurde von den Polen zwar nicht unfreundlich empfangen, doch war ihm alles fremd.

Die Siechenbucht in Travemünde mit der Fischersiedlung
Die Siechenbucht in Travemünde mit der Fischersiedlung

Fischerfamilien aus Leba, Stolpmünde, Rügenwalde, Kolberg und Swine­münde bilden die Siedlungsgemeinschaft in Travemünde. Einige Ost­preußen und einige Fischer von Hela gehören noch zu ihr. In gegen­seitiger Unterstützung haben sie sich vorwärts geholfen. Die Kutter sind gut instand, mit allen technischen Hilfsmitteln versehen, um den Hering aufzuspüren und die Fangerträge zu steigern, um sich zu sichern gegen die Unbilden der weiten Fahrten. Einige sind Eigner moderner Hochsee­kutter geworden. Mit ihnen sind sie ab Mitte Juli, wenn die große Saison beginnt, auch in der Nordsee, an der Doggerbank und den großen Laichplätzen des Fettherings.

Die Krolls aus Leba, die Lemkes und Schinnows aus Stolpmünde, die Mit­tags aus Rügenwalde, die Boness’ aus Kolberg und all die anderen von der pommerschen Küste, die der Krieg nach Travemünde verschlug, sie haben — so hört man es freimütig im Kontor der Holsteinischen Genossen­schaft — „gezeigt, wie und wo man in der Ostsee fischen kann”.

Natürlich wurde ich neugierig was aus dieser Siedlung geworden war. Mit Hilfe des Lübecker Vereins für Familienforschung e.V.  und der Facebookgruppe “Du lebst schon lange in Travemünde, wenn…” konnte ich die  Örtlichkeit in Travemünde lokalisieren , erhielt zahlreiche Fotos und stellte mit Erstaunen fest,  dass die Fischer Siedlung am Platz des jetzigen Skandinavienkais in Sichtweite des Pommernzentrums gelegen war.

Abbruch der alten Fischersiedlung Travemünde
Abbruch der alten Fischersiedlung Travemünde

Wie lange die Siedlung existiert hat, konnte bisher nicht genau festgestellt werden. [Nach eine knappen Jahrzent wieder abgerissen….] Jedenfalls wurde in der Zeit zw. 1959-62 auf dem Gebiet der Fischersiedlung und der benachbarten Nerzfarm (von einer ostpreußischen Familie betrieben) der Skandinavienkai angelegt und später erweitert (Inbetriebnahme 1962).

Ab 1954 wurde eine neue Fischersiedlung am Stadtrand vonTravemünde (Gebiet am Teutendorfer Weg) durch Wohnungsbaugenossenschaften errichtet, 113 von 115 Siedlerstellen wurden an ehemals ostdeutsche Familien vergeben.

Mein herzlicher Danke an den Verein für Familienforschung Lübeck e.V. , Ernst Schröder und die  Facebookgruppe “Du lebst schon lange in Travemünde, wenn…” für ihre schnelle und umfangreiche Hilfe. Sind keine Bildquellen genannt, ließen sie sich nicht ermitteln.

Literaturhinweis:

Die neuen Fischersiedlungen nach 1945 in Schleswig Holstein, Ulrich Tolksdorf
mit umfangreichen Angaben auch zu anderen Siedlungen

 

2 Gedanken zu “Fischersiedlungen in Schleswig-Holstein”

  • Schöner Artikel mir ist die Fischersiedlung noch im Gedächtnis…ich musste mit meiner Mutter 1952 dort des öfteren hingehen und das war immer ein weiter Weg….natürlich zu fuss…denn es gab dort jemand der Strickjacken
    herstellte…werde ich nie vergessen.

  • .. gut gemacht, soweit ich dieses als “Außenstehender” beurteilen kann ..
    .. mir sind noch die Belegenheiten der Fischersiedlung im Gedächtnis verhaften, z.B. diejenigen zur Aufzucht von Nerzen .. od. die Bahnzuwegung in Richtung Fischereihafen .. später trat ich mit der Fam. Spiering in Kontakt, welche den Kutter TRA10 “Zander” betrieben ..

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