Mit Erlaubnis der AG für pommersche Kirchengeschichte veröffentlicht: (6.11.2012)

Betreff: Verkauf der Stralsunder Gymnasialbibliothek
Bezug: Berichterstattung unter www.augias.net und http://archiv.twoday.net/search?q=Stralsund sowie in der Ostsee-Zeitung und der Schweriner Volkszeitung vom 3. November 2012
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Badrow,
Sehr geehrter Herr Präsident Zimmer,
Sehr geehrte Mitglieder der Bürgerschaft der Hansestadt Stralsund,
als Vorsitzender und zugleich im Auftrag des Vorstands und der Kuratoren der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V. wende ich mich in einer uns beschwerenden Angelegenheit an Sie. Einleitend möchte ich jedoch daran erinnern, dass die Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte der Hansestadt Stralsund seit vielen Jahrzehnten eng verbunden ist. Seit Gründung unseres Vereins 1971 war Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Ewe eines unserer treuesten Mitglieder, der in verdienstvoller Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg das Stralsunder Stadtarchiv aufgebaut und zu einer national wie international renommierten wissenschaftlichen Institution geformt hat.

Um so bestürzter sind wir über die Pressemeldungen der vergangenen Wochen, denen wir entnehmen mußten, daß die Hansestadt Stralsund den bisher im Stadtarchiv verwahrten Bestand ihrer traditionsreichen Gymnasialbibliothek an einen Antiquar veräußert hat. Lassen Sie mich Ihnen sehr persönlich und in aller Offenheit sagen, dass mich diese Meldung zutiefst deprimiert und fassungslos gemacht hat. 

Das Stralsunder Gymnasium ist im Gefolge der Reformation im Jahre 1560 begründet worden. Die Bibliothek dieser Schule geht auf das Jahr 1627 zurück, enthielt aber durchaus Drucke, die bis in die Gründungszeit der höheren Lehranstalt zurückreichten. Es handelte sich bei der Stralsunder Gymnasialbibliothek nach den Verlusten am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg um die bedeutendste historische Schulbibliothek, die in Pommern erhalten geblieben war. Zahlreiche Bände dieser Schulbibliothek wiesen die Widmungen ihrer Stifter, oft bedeutende Lehrer und Geistliche in der Stadt am Strelasund, auf. Der Bestand als Ganzes war ein Zeugnis ersten Ranges für die Bildungsgeschichte der Stadt und des ganzen Ostseeraumes, was die Charakterisierung im 2003 erschienenen “Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich und Europa”, dem sog. Fabian-Handbuch, deutlich zeigt. Es schmerzt, wenn die Presse jetzt meldet, es habe sich “nur” um Schriften zur Theologie und Philologie gehandelt, die keinen besonderen Wert für die Stadt hätten. In Stralsund wurde die Reformation bereits 1525 eingeführt. Damit gehörte die Hansestadt damals zu den ersten Städten in Europa, die sich der neuen Lehre zuwandten.

Wenn die heutige Stadtverwaltung und auch die Stadtvertreter meinen, jahrhundertealte theologische Druckerzeugnisse aus städtischem Besitz verkaufen zu können, wirft das auch überregional ein verheerendes Licht auf den Umgang mit dem kulturellen Erbe einer Stadt, die erst vor zehn Jahren zum UNESCO-Weltkulturerbe erhoben wurde.

Aus den Verlautbarungen der vergangenen Tage bleiben Fragen offen, auf die sowohl die Stralsunder als auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit eine Antwort erwarten können:

1. Warum hat sich die Hansestadt Stralsund entschlossen, ihre Gymnasialbibliothek zu verkaufen? Bisher heißt es, die Initiative dazu wäre von einem Antiquar in Dinkelscherben ausgegangen, der im übrigen nach dem Erwerb des Bibliotheksbestandes die Stadtverwaltung überhaupt erst auf die unhaltbaren Lagerungsbedingungen im Stadtarchiv aufmerksam machte.

2. Wurde der gesamte Bestand der Gymnasialbibliothek veräußert?

3. Wurden über diesen Verkauf die Kommunalaufsicht und das Kultusministerium informiert?

4. Weiß die Hansestadt Stralsund im Einzelnen, was verkauft wurde, d.h. gibt es eine Liste der veräußerten Titel? In der Presse ist zu lesen, der Bestand sei nicht katalogisiert gewesen. In den vergangenen Wochen sind zahllose Titel in den einschlägigen Antiquariats-Internetportalen aufgetaucht, die neben den Stempeln und Exlibris der Gymnasialbibliothek auch solche der Stadtbibliothek und der Gräflich Löwenschen Büchersammlung tragen. Sind diese Bände aus dem Stadtarchiv, die offensichtlich nicht zur Gymnasialbibliothek gehörten, “versehentlich” mit verkauft worden?

5. Wie ist es zu erklären, daß zahllose Titel, die z.B. über ZVAB im Internet aus Stralsunder Provenienz angeboten werden, zu den Bereichen Stralsunder Stadt- und pommersche Landesgeschichte zählen, obwohl in den Mitteilungen der Pressestelle der Hansestadt genau dies ausgeschlossen, ja sogar als “Todsünde” bezeichnet wurde?

6. Ist gesichert, daß alle Titel, die jetzt verkauft wurden, wirklich Dubletten waren oder besteht die Gefahr, daß auch Titel, die nur einmal in Stralsund vorhanden waren, verkauft wurden und auf diese Weise der Stadt ein nicht wieder gut zu machender materieller und ideeller Schaden entstanden ist? Angesichts zahlloser Gelegenheitsdrucke und anderer frühneuzeitlicher Druckwerke, die in keinem digitalen deutschen Bibliothekskatalog nachgewiesen sind, aber derzeit aus Stralsunder Provenienz über ein Antiquariat verkauft werden, herrscht in der Fachöffentlichkeit große Unruhe.

7. Was wird die Hansestadt Stralsund unternehmen, um das derzeit geschlossene Stadtarchiv für die Forschung wieder zugänglich zu machen und die im Johanniskloster durch Feuchtigkeit und Schimmelbildung gefährdeten Archiv- und Bibliotheksbestände zu retten? Welche Gewähr besteht künftig, daß nicht weiteres Kunst- und Kulturgut aus städtischem Besitz veräußert wird?

8. Warum wurden die verkauften Werke nicht zuerst anderen Archiven und Bibliotheken im Land Mecklenburg-Vorpommern angeboten?
Zu DDR-Zeiten hat eine Firma im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit systematisch Kunst- und Kulturgut aus öffentlichem und privatem Besitz für Devisen verkauft und dazu großen Druck auf Museen, Archive und Bibliotheken ausgeübt. Es ist mehr als traurig, wenn die Hansestadt Stralsund 23 Jahre nach der politischen Wende nun selbst den Ausverkauf eines für die Bildungsgeschichte ihres Gemeinwesens unersetzlichen Biblioheksbestandes in einer nichtöffentlichen Hauptausschußsitzung der Bürgerschaft sanktioniert und über die Stadtverwaltung organisiert.

Für klärende Antworten auf diese Fragen wären wir dankbar und hoffen im übrigen, daß der offenbar bereits eingetretene schwere Schaden für das Ansehen der Hansestadt Stralsund und für unersetzliches pommersches Kulturgut im Rahmen des noch möglichen eingegrenzt werden kann.

Sie werden gewiß verstehen, dass ich dieses Schreiben auch der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebe.

Mit freundlichem Gruß

OKR Dr. Christoph Ehricht

Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte e.V.:
c/o Frau Dipl.-Archivarin Ulrike Reinfeldt
Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland
Landeskirchliches Archiv Greifswald
Rudolf-Petershagen-Allee 3
17489 Greifswald
Tel.: 03834-572532
Fax: 03834-572536
Mobil: 0160-98987905
E-Post: archiv@pek.de
http://www.pommersche-kirchengeschichte-ag.de

7 Gedanken zu “Stralsund: Offener Brief der AG für pommersche Kirchengeschichte”

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